Eure Vergangenheit – unserer Zukunft

pARTisanka 35/2020

From revolution to masturbation

Eurozine Review 02/2021

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 Die belarussische Kunst- und Kulturzeitschrift pARTizan, 2002 von Künstler und Schriftsteller Artur Klinau gegründet, beschäftigt sich in der neuesten Ausgabe mit den Protesten in Belarus gegen das autoritäre Regime von Aleksandr Lukaschenko. Und zwar aus der Perspektive von Künstlern, Fotografen, Philosophen, Dichterinnen, Wissenschaftlern und Intellektuellen aus Belarus und aus Deutschland, das mit den Ereignissen in der DDR im Jahr 1989 eine ähnliche Erfahrung eines friedlichen Umsturzes machte.

Aus dieser Erfahrung, so schreiben es die beiden Herausgeberinnen Tania Arcimovich und Aenne Quiñones im Vorwort, gilt es nicht nur Vergleiche zu formulieren, sondern inspirierende Fragen zu stellen, die den Belarussen helfen, einen Weg in die Zukunft auszumachen: „Was ist unsere Gegenwart? Und um welche Zukunft geht es? Wer sind wir und ihr in dieser Konstruktion? Und was ist mit den Begriffen “Freiheit”, “Wandel”, “Transformation”?“

Die auch ästhetisch hochanspruchsvolle Ausgabe, die eine Collage aus Texten, Interviews, Bildern, Fotos oder Gedichten bietet, wurde in Koproduktion mit dem Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) organisiert und orchestriert. Nach der letzten Ausgabe ist es bereits das zweite Mal, dass aus pARTizan eine pARTizanka wird, womit die Macherinnen die Bedeutung der Frauen bei den Protesten in Belarus betonen. Ein Thema, das auch in der aktuellen Ausgabe ausgiebig diskutiert wird.

Revolution als Prozess

In einem Gespräch erörtern die Soziologin Elena Gapova, die Philosophin  Almira Ousmanova, die Philosophin Valeria Korablyova und der Historiker Felix Ackermann, was genau in Belarus seit dem 9. August 2020 passiert und welche Zukunftsszenarien denkbar sind. Dabei zeigt sich Ousmanova besonders optimistisch. Sie konstatiert, dass das Machtsystem ihrer Meinung nach zusehends zerfallen werde, weil immer mehr Menschen ihre Loyalität aufkündigen. Zudem werde das System in die internationale Isolation getrieben. Die Zukunft, sagt sie, „kann viel früher eintreten, als wir heute glauben. Etwa so, wie das Ende der Sowjetunion plötzlich “passierte”.

Korablyova stellt die wichtige Frage, wie es dem aktiv gewordenen Teil der Belarussen im Falle des Eintretens des Wandels gelingen kann, die Mobilisierung, Solidarität und politische Partizipation, „die den Protest kennzeichnen, in wirksame Strukturen der Verwaltung und der permanenten politischen Partizipation verwandeln lassen“. Und wie die horizontalen Netzwerke, die sich herausgebildet haben, dann ihren Einfluss geltend machen können, indem sie auch von denjenigen das Mandat für Wandel und Reform erhalten, die sich nicht für Politik interessieren?

In dem Gespräch wird auch immer wieder diskutiert, inwieweit sich die belarussischen Proteste mit anderen Umbruchsprozessen wie beispielsweise in der Ukraine vergleichen lassen. Korablyova verweist darauf, dass sich Parallelen im Moment nur schwerlich mit aller Sicherheit festlegen ließen, schließlich seien die Proteste noch nicht abgeschlossen. Abschließend betont sie: „Ich hoffe, dass dieser neue Fall zu einer Erfolgsgeschichte wird und damit der Entwicklung sowohl des theoretischen Denkens als auch dem modernen politischen Imaginären der Demokratie neue Impulse gibt.“

Aus der Wahrheit lernen

Klaus Wolfram war einer der Koordinatoren des Neuen Forums, der Plattform der demokratischen Bürgerbewegung, die sich ab Herbst 1989 aufmachte, den Ruf nach Selbstermächtigung in die Politik zu tragen und damit die DDR zu reformieren. Der Berliner seziert in einem Gespräch mit dem Belarus-Kenner Ingo Petz das Scheitern der damaligen Demokratiebewegung und zieht Parallelen zu den belarussischen Ereignissen. Er betont, dass sich die aktiven Belarussen heute schon auf die Zukunft vorbereiten müssten: „Es kommt irgendwann zu Neuwahlen, selbst wenn es vorher zu noch härteren Rückschlägen seitens der Machtorgane kommen sollte. Dann muss man gewährleisten, dass die Leute aus der Reformbewegung auf allen möglichen Ebenen in die neue demokratische Struktur gewählt werden können. Menschen, die den Selbstermächtigungsimpuls in sich tragen und die mit der Bewegung gewachsen sind. Das muss durchdacht und vorbereitet werden.“

Kunst in Zeiten der anhaltenden Krise

Über 30.000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste in Belarus inhaftiert, es gab viele dokumentierte Fälle von Folter und Misshandlungen. Auch wenn zumindest die Massenproteste aktuell abgeklungen sind, gehen die Proteste in kleineren Formen weiter, wie auch die Inhaftierungen. Aktuell geht das Regime, das keine Anstalten machte aufzugeben, gezielt gegen die unabhängige Literatur-, Verlags- und Kulturszene vor. Was macht diese Krisensituation also mit der Kunst? „Welche Kunst ist möglich und gefragt in der beispiellosen Situation, in der sich Belarus gerade befindet? Was kann zum Anlass und zum Thema einer Ausstellung heute werden?“

Das fragen sich Lisaweta Michaltschuk, Kuratorin der Galerie KX Raum (Brest), und die Kunstwissenschaftlerin Jelisaveta Kauciak in einem äußerst anregenden Gespräch. Letztere betont dabei, dass in der aktuellen Situation das Banale zum Material für die künstlerische Verarbeitung wird: „Eine Selbsterzählung ist zu einer Form der politischen Kunst bzw. der Kunst über Politik geworden.“ Und Michaltschuk zerstreut jegliche Hoffnung darauf, „dass der fundamentale Wert der Kunst in der Zukunft auf der staatlichen Ebene anerkannt wird und entsprechende Forderprogramme entwickelt werden.“ Denn: „Damit die Kunst die Menschen fordert, muss man die Kunst fordern. Eine demokratische Gesellschaft ist erst möglich, wenn es eine kritische Masse an denkenden und mitfühlenden Menschen in der Gesellschaft gibt.“

 

 

Published 3 February 2021
Original in English
First published by Eurozine

© Eurozine

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